Naturwissenschaft und Technik: Ein neues Weltbild setzt sich durch

Naturwissenschaft und Technik: Ein neues Weltbild setzt sich durch
Naturwissenschaft und Technik: Ein neues Weltbild setzt sich durch
 
Vom Mittelalter zur Renaissance
 
Gelegentlich wird noch heute das Mittelalter als »dunkle Zeit«, als Zeit des Niedergangs und des Tiefstands der Wissenschaften geschildert. Im Umgangssprachlichen tritt »mittelalterlich« nahezu synonym mit »rückständig« auf. Diese Sichtweise geht indessen an den historischen Tatsachen vorbei.
 
Insbesondere im muslimischen Herrschaftsbereich wurden auch und gerade während des Mittelalters in Mathematik und Naturwissenschaften herausragende Ergebnisse erzielt: Einer Phase der Bewahrung der antiken Wissenschaften und Philosophie, verbunden mit einer systematischen Übersetzungstätigkeit, folgten eigenständige Fortschritte in Astronomie, ebener und sphärischer Trigonometrie, Kartographie, Algebra, die Ausbildung einer Alchimie/Chemie sowie die Übernahme der indischen Ziffern. Muslimische Ärzte galten mit Recht als die besten ihrer Zeit.
 
Bei dem damaligen starken Kultur- und Wissenschaftsgefälle von Ost nach West gelangten, trotz aller kriegerischen Verwicklungen, an den Berührungsstellen der arabisch-muslimischen mit der lateinisch-europäischen Welt — über Sizilien, die Iberische Halbinsel und den Nahen Osten — kulturelle, wissenschaftliche und technologische Kenntnisse in den Westen: Papierherstellung, Kenntnis von Heilkräutern, Zierpflanzen, Obstgehölzen, Architektur, vermutlich Kompass und Pulver. Noch heute erregen die aus planmäßigen Züchtungen hervorgegangenen »Araber« die Bewunderung der Pferdeliebhaber. In der Kunst des Webens von Brokat- und Seidenstoffen sowie in der Metallverarbeitung waren die Muslime damals den Europäern weit überlegen; die Bezeichnungen »Damast« und »Damaszener (Stahl-)Klinge« verweisen auf ein Zentrum handwerklicher Tätigkeit, auf Damaskus im heutigen Syrien.
 
Seit dem 8./9. Jahrhundert zeigten sich, mit der Herausbildung der Feudalgesellschaft, auch in Europa deutliche Fortschritte in Wissenschaft, Technologie und Kultur. Romanische und gotische Kathedralen spiegeln nicht nur verschiedene Kunststile wieder, sondern auch bedeutende Fortschritte in der Technologie. Durch den fränkischen König und Kaiser Karl den Großen wurde der Klerus angewiesen, Bildung zu erwerben und zu vermitteln; das Reich musste verwaltet werden. Aus einigen Kloster- und Domschulen gingen später Universitäten hervor. Ein bedeutender Gelehrter dieser Zeit war Hrabanus Maurus.
 
Die Scholastik hat im Hochmittelalter, im 13./14. Jahrhundert, hervorragende, auch naturwissenschaftlich orientierte Gelehrte hervorgebracht, beispielsweise Roger Bacon, Albertus Magnus, Wilhelm von Ockham und Thomas Bradwardine in Oxford sowie Nikolaus von Oresme, Bischof von Lisieux, einen der bedeutendsten Mathematiker des europäischen Mittelalters. Es gab Brillen, Windmühlen, Uhren, man verfügte über die starken Mineralsäuren. Die Äbtissin Hildegard von Bingen verfasste schon im 12. Jahrhundert eine Schrift, in der über 1000 Tiere und Pflanzen und deren Heilwirkungen beschrieben wurden.
 
Die Tätigkeit des Kaufmannes Leonardo Fibonacci aus Pisa in der 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts, der eine Zeit lang in Nordafrika tätig war und dort die Rechenmethoden mit den indisch-arabischen Ziffern kennen lernte, weist schon auf eine kommende Periode hin, auf eine Zeit, in der der Handel, der endgültige Übergang von der Natural- zur Geldwirtschaft, die Herausbildung einer städtischen Kultur, die Orientierung auf das selbstbewusste Individuum und eine stürmische Entfaltung der Künste und des Handwerks hervortraten.
 
Die Antike kann übertroffen werden
 
Schon zur Mitte des 14. Jahrhunderts zeigten sich in Italien Züge der frühbürgerlichen Gesellschaft, dort, wo die Traditionen der Antike noch am lebendigsten waren. Bis zum Ende des 16. Jahrhunderts waren Süd-, West- und Mitteleuropa sowie Teile Osteuropas von der alle Lebensbereiche ergreifenden Neuorientierung erfasst. Die Antike erschien in Verklärung als »goldenes Zeitalter«; es wiederherzustellen, ihm zur Wiedergeburt (renaissance) zu verhelfen, galt als Ziel damaliger geistiger Eliten, im Klerus, in den Städten und an den Höfen, an den Universitäten. Die Losung ad fontes!, »zurück zu den Quellen«, rückte die textkritische Erschließung antiker Texte in den Mittelpunkt der Tätigkeit der Humanisten. Auch antike mathematisch-naturwissenschaftlich-technische Schriften wurden allgemein zugänglich, insbesondere nach Einführung des Buchdrucks.
 
Bald jedoch wuchs die Renaissance über die bloße Aneignung der Antike hinaus. Es wurde klar, dass die Antike übertroffen werden konnte und schon übertroffen worden war. Es gab Feuerwaffen und hochseetaugliche Schiffe. Erdteile, Tiere und Pflanzen waren entdeckt worden, von denen sich in den Schriften der Antike nicht einmal die Spur einer Andeutung finden ließ. Die zahlreichen »Kräuterbüchlein« und »Tierkunden« bemühten sich um eine Beschreibung der heimischen und exotischen Floren und Faunen. Chemische und metallurgische Probleme erwuchsen aus der Büchsenmacherei und der Pulverherstellung, bei der Identifizierung und Gewinnung von Erzen und bei der Verhüttung von Silber-, Kupfer-, Zinn-, Blei- und anderen Erzen. Alchimie war nicht getrennt von echter Suche nach chemischen Zusammenhängen und stand in hoher Blüte. Das Auftreten von Paracelsus in der 1. Hälfte des 16. Jahrhunderts, in einer einzigartigen Verquickung von Naturbeobachtung und Mystik, stand am Beginn der Erneuerung der Medizin.
 
Die Malerei hatte zur Berücksichtigung der Perspektive vorstoßen können; hier, wie im Festungsbau, lagen Anfänge der späteren darstellenden Geometrie. Die Ausbildung des kaufmännischen Rechnens — der »welschen Kunst« (das heißt, aus Italien und Frankreich stammend) —, und die Durchbildung der Rechenmethoden mittels der indisch-arabischen Ziffern gingen Hand in Hand. Adam Ries, der »Rechenmeister des deutschen Volkes«, erlangte einen geradezu legendären Ruhm. Nach und nach bürgerten sich feste Symbole für die vier Grundrechenarten, das Gleichheitszeichen und die niedrigen Potenzen der Unbekannten ein. Diese »Coss« genannte Frühform der Algebra ebnete den Weg für die Herausbildung der Algebra als einer zweiten eigenständigen Disziplin innerhalb der Mathematik.
 
Schon im 16. Jahrhundert hatte man in Italien die rechnerische Auflösung der Gleichungen dritten und vierten Grades finden können; sie war für unmöglich gehalten worden, und es existierten bis dahin nur geometrische Lösungsverfahren.
 
Architektur, kartographische Erschließung riesiger neuer Ländereien, Navigation und Befestigungskunst, aber auch die bildenden Künste, schufen der Geometrie weitere neue Anwendungsgebiete. Dazu kamen geometrisch-kinematische Probleme, etwa beim Richten der Geschütze und der Suche nach der Form der Flugbahn. Konstruktionsideen für allerlei Maschinen und Geräte, für Wasserräder und Mühlen, und die (freilich vergebliche) Suche nach dem perpetuum mobile, einer unaufhörlich Antriebskraft spendenden Vorrichtung —, dies alles warf Fragen der späteren wissenschaftlichen Mechanik auf, die über Galileo Galilei, Johannes Kepler und viele, viele andere schließlich von Isaac Newton bewältigt werden konnten. Doch schon Leonardo da Vinci hatte den Zusammenhang von Naturwissenschaften und Mathematik erkannt: »Die Mechanik ist das Paradies der mathematischen Wissenschaften, denn durch sie kommt man zur mathematischen Frucht.« Und Galilei wird es später so formulieren: »Die Natur ist in der Sprache der Geometrie geschrieben«.
 
Die Artefici oder Künstleringenieure
 
Die Träger dieser neuen, sich erst formierenden Wissenschaften, die nicht mehr in Latein, sondern in den Nationalsprachen niedergelegt wurden, waren in den wenigsten Fällen Universitätsgelehrte. Vielmehr waren es Handwerker und Ärzte, Büchsenmeister und Architekten, Schiffsbauer und Künstler, Bergleute und Rechenmeister, Kaufleute und Mönche, die sich selbst als artefici (Künstler, Handwerker) oder ingenieri (Ingenieure) bezeichneten. Heute spricht man häufig auch von »Künstleringenieuren«; zu den bekanntesten gehören Leon Battista Alberti und Leonardo da Vinci in Italien und Albrecht Dürer in Deutschland. Ihre künstlerische Bedeutung ist weithin bekannt. Leonardo war indes vorwiegend als Militär- und Zivilingenieur tätig. Er entwarf eine Fülle technischer Konstruktionen und Maschinen, unter anderem Feilautomaten, Schleifmaschinen, Bagger, Geschütze, einen Fallschirm, Flugapparate. Dürer ließ 1527 ein Lehrbuch der Befestigungskunst für Städte und Schlösser drucken; schon 1525 war in Nürnberg eine Art praktische Geometrie für junge Künstler erschienen, die »Underweysung der messung mit dem zirckel und richtscheydt«.
 
 Die kopernikanische Revolution
 
Nichts hat die endgültige Ablösung des mittelalterlichen Weltbilds so nachhaltig bewirkt wie die Ersetzung der aus der Antike überkommenen geozentrischen Astronomie durch die heliozentrische Astronomie, griff doch der Heliozentrismus eine der Grundvorstellungen an, die mit dem christlichen Glauben eine feste Einheit eingegangen war: Der Mensch, mit seinem Wohnsitz Erde, steht im Mittelpunkt der von Gott geschaffenen Welt.
 
Die geozentrische Auffassung von der ruhenden Erde, um die die Planeten kreisen — auch die Sonne ist nach dieser Auffassung ein Planet —, schien durch den Augenschein ganz offensichtlich und hatte in der Antike fast unumstrittene Gültigkeit besessen. Doch wissen wir aus einer Bemerkung des Archimedes, dass Aristarchos von Samos im 3. Jahrhundert v. Chr. eine heliozentrische Theorie entworfen hatte. Sie blieb in der Antike indes fast folgenlos, da schließlich Ptolemäus, der im 2. Jahrhundert n.Chr. in Alexandria wirkte, in seinem großartigen, äußerst scharfsinnigen Handbuch »Almagest« eine recht genaue, die Beobachtungen bestätigende mathematische Berechnung der Planetenbewegungen auf geozentrischer Grundlage gelang. Sein »Almagest« enthielt zugleich in zusammenhängender Form die mathematischen Hilfsmittel, eine spezielle sphärische Trigonometrie.
 
Die geozentrische Vorstellung war unbestrittener Bestandteil des christlich-mittelalterlichen Weltbildes. In den Kreisen der Gelehrten ging es um die Überlieferung und um das Verständnis des schwierigen »Almagest«. Seit der Spätantike gab es Kommentare, später dann arabische Bearbeitungen und im europäischen Hochmittelalter Übersetzungen aus dem Arabischen und dem Griechischen ins Lateinische. Eine besondere Pflege erfuhr die Astronomie des Ptolemäus im 14./15. Jahrhundert an der herausragenden astronomischen Schule der Universität Wien; dort wirkten Johannes von Gmunden, Georg Peurbach und dessen Freund und Schüler Regiomontanus, vielleicht der bedeutendste Mathematiker der Renaissance. Er fasste die verstreuten Begriffe und Sätze der ebenen und sphärischen Geometrie in seinem Werk »Über alle Arten von Dreiecken« (De triangulis omnimodis) in fünf Bänden zusammen, verglich die von Ptolemäus überlieferten Beobachtungsdaten mit neueren, genaueren Messungen und verfasste außerdem, zusammen mit Peurbach, eine Einführung in den »Almagest«, die lange Zeit das dominierende Lehrbuch blieb. Die von Regiomontanus stammenden »Sterntafeln« (Ephemeriden) wurden übrigens nachweislich von Kolumbus auf seinen Entdeckungsreisen benutzt. Mit Regiomontanus endete unwiderruflich die Periode der vorbehaltlosen Übernahme der ptolemäischen Astronomie, wobei es, zunächst, um die Korrektur der astronomischen Daten durch genauere Beobachtungen mit verbesserten Instrumenten ging.
 
In diese Phase einer vorsichtig kritischen Überprüfung der ptolemäischen Astronomie wurde Nikolaus Kopernikus am 19. Februar 1473 — in Thorn, polnisch Toruń — hineingeboren. Nach Studien an der auf hohem wissenschaftlichen Niveau stehenden Universität Krakau und in Oberitalien — so in Bologna bei Domenico Maria di Novara, einem Schüler von Regiomontanus — kehrte er in seine Heimat zurück; im Verwaltungsdienst der Kirche tätig, lebte er ab 1510 fast ausschließlich in Frauenburg (Frombork, Polen).
 
Die Erde ist Planet unter Planeten
 
Zwischen 1502 und 1514 hat Kopernikus in sieben Thesen die Grundzüge eines heliozentrischen Planetensystems in einer kleinen Schrift »Commentariolus« (Entwurf) fixiert: Die Erde ist Planet unter Planeten und umkreist wie diese die Sonne. Er war sich darüber im Klaren, dass es weiterer Beobachtungen und mathematischer Durchdringung bedurfte, um seine zunächst noch als Hypothese betrachtete Auffassung zu beweisen. Trotz starker Belastungen bei seiner administrativen Tätigkeit während der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Polen und dem Deutschen Orden in dieser Zeit hat Kopernikus sogar Himmelsbeobachtungen angestellt; das Fernrohr war noch nicht erfunden.
 
Um 1527/28 dürfte Kopernikus zu dem Schluss gekommen sein, dass seine Theorie hinreichend belegt sei; schwierige mathematische Berechnungen waren vorausgegangen. Zwischen 1529 und Mitte 1532 entstand unter dem lateinischen Titel »De revolutionibus« (etwa: Über die Umwälzungen, das heißt die Umdrehungen der Planetensphären) eine ausführliche Darstellung des heliozentrischen Systems. Noch bis 1541 hat Kopernikus Verbesserungen vorgenommen.
 
Der »Commentariolus« war ungedruckt geblieben; nur Abschriften kursierten. Die Gerüchte über eine gänzlich neue Astronomie drangen bis nach Italien. Der Papst lud Kopernikus zur Mitwirkung an der notwendig gewordenen Kalenderreform ein. Martin Luther in Wittenberg, im Zentrum der Reformation, sprach sich gegen Kopernikus aus, »der Narr wolle die ganze Kunst astronomiae umkehren«.
 
Doch gerade von Wittenberg ging ein entscheidender Impuls aus. Der junge Professor der Mathematik an der Wittenberger Universität, Georg Joachim Rheticus, reiste 1539 nach Frauenburg zu Kopernikus und schrieb, von ihm unterwiesen, einen begeisterten Brief, der als »Erster Bericht« (Narratio prima) gedruckt wurde und die heliozentrische Theorie weithin bekannt machte. Rheticus war auch wesentlich an der Drucklegung von »De revolutionibus« beteiligt; einige Zeit überwachte er — nach einer Abschrift — den Druck in Nürnberg. Dann aber vertraute er die Drucklegung dem einflussreichen lutherischen Theologen Andreas Osiander an. Der aber missbrauchte das in ihn gesetzte Vertrauen. Nicht nur, dass er dem ursprünglichen Titel die Worte »orbium caelestium« (der Himmelskörper) hinzufügte, er stellte in einem unterschobenen, nicht signierten Vorwort — gegen besseres Wissen — die heliozentrische kopernikanische Astronomie als bloße mathematische Hypothese dar, ohne Anspruch auf Wahrheitsgehalt. Kopernikus' Freunde protestierten, kamen aber zu spät, um die ungeheuerliche Fälschung rückgängig machen zu können.
 
Inzwischen war Kopernikus im Herbst 1542 schwer erkrankt. Die Legende berichtet, ein reitender Bote aus Nürnberg habe dem Sterbenden das erste Exemplar des Drucks noch in die Hände gelegt, der es aber nicht mehr habe erkennen können. Kopernikus starb am 24. Mai 1543 in Frauenburg.
 
Erst langsam offenbarte sich die weltanschauliche Sprengkraft, die in der heliozentrischen Astronomie verborgen lag; das Geschehen um Galilei sollte dies nur allzu deutlich erweisen.
 
 Die wissenschaftliche Revolution
 
Historische Perioden in der Entwicklung der Wissenschaften pflegen nicht mit Tag und Stunde zu enden oder zu beginnen. Und so ist der Übergang von der Renaissance zu der nachfolgenden Periode, die etwa auf die Zeit von 1600 bis ins 1. Drittel des 18. Jahrhunderts zu datieren ist, gleitend. In einem gewissen Sinne stellt sich die Renaissance dar als Ouvertüre zu einer großen Zeit der Entwicklung von Mathematik und Naturwissenschaften, sowohl nach Inhalt als auch nach Methode, mit weit reichenden Folgen für die Herausbildung eines wissenschaftlichen Weltbildes.
 
Einige Teile der Wissenschaft konstituierten sich als eigentliche, moderne Wissenschaft in unserem Sinne; dies gilt insbesondere für Astronomie, Mechanik und Infinitesimalmathematik. Aber auch in wesentlichen Teilgebieten von Physik, Chemie, Biologie und Geowissenschaften wurden neue fundamentale Einsichten und Ergebnisse erzielt, die weit in die Zukunft reichten.
 
Dazu kamen neue Organisationsformen der Wissenschaft, insbesondere die Gründung von Akademien und wissenschaftlichen Zeitschriften. Die Beziehungen zu Technik und Ökonomie gestalteten sich auf dem Hintergrund des sich entfaltenden Manufakturkapitalismus enger und schließlich suchte man nach philosophisch-erkenntnistheoretischen Grundlagen für die neuen Wissenschaften. René Descartes, Baruch de Spinoza, Gottfried Wilhelm Leibniz, Voltaire, Jean Le Rond d'Alembert und die europäische Aufklärung lassen sich aus dem Werden der neuen Wissenschaften nicht wegdenken.
 
Das alles schuf den Naturwissenschaften eine neue gesellschaftliche Stellung und aktive Funktion. Diese im Ganzen gesehen grundsätzliche Neu- und Umorientierung der Wissenschaften mit ihren vielfältigen Aspekten wird in der Wissenschaftsgeschichte daher im Allgemeinen als »wissenschaftliche Revolution« bezeichnet.
 
Der Kampf um das heliozentrische Weltbild
 
Galileo Galilei, geboren am 15. Februar 1564 in Pisa, ist im gewissen Sinne zur Symbolfigur für den Beginn der neuzeitlichen Wissenschaft geworden, nicht zuletzt durch Bertolt Brechts Schauspiel. Dabei ist der »Fall Galilei«, das heißt der durch die Inquisition gegen ihn geführte Prozess, als Folge seiner Parteinahme für das heliozentrische Weltsystem nur eine Facette seines naturwissenschaftlichen Engagements, allerdings von großer weltanschaulicher und politischer Relevanz.
 
Brieflich trat Galilei schon 1597 für Kopernikus ein. Öffentlich bekannte er sich zum heliozentrischen Weltbild nach der Veröffentlichung seiner Schrift »Sternbote« (Sidereus nuncius, 1610) mit den von ihm am Himmel mit dem Fernrohr gemachten sensationellen Entdeckungen. Der Jupiter erschien ihm mit den von ihm entdeckten Monden als eine Art Modell des heliozentrischen Systems. Vergeblich hat Galilei versucht, die Kirche von dessen Richtigkeit zu überzeugen. 1616 wurde die heliozentrische Lehre verurteilt, und Galilei wurde verwarnt.
 
Nach dem Machtantritt des neuen Papstes Urban VIII. hoffte Galilei auf dessen Einsicht und veröffentlichte 1632 den »Dialog über die beiden Weltsysteme«, wo Galilei, indirekt zwar, aber deutlich, für Kopernikus eintrat. Galilei wurde in Rom von der Inquisition angeklagt. An derselben Stelle, an der Giordano Bruno im Jahre 1600 zum Tode verurteilt worden war, wurde Galilei am 22. Juni 1633 zum Widerruf gezwungen. Die heliozentrischen Schriften wurden auf den päpstlichen Index der verbotenen Bücher gesetzt; erst 1835 traten sie darin nicht mehr auf.
 
In den Kreisen der Naturforscher freilich festigte sich mehr und mehr die Überzeugung, dass die Sonne im Mittelpunkt des Planetensystems steht. Dennoch wagte es Descartes angesichts der Verurteilung Galileis nicht, sein gesamtes Werk »Die Welt« (Le monde) zu publizieren. Nur weltanschaulich unverfängliche Teile erschienen im Druck, darunter ein Teil über Geometrie, einer der Ausgangspunkte der Mathematik der Variablen.
 
Galilei wurde zu lebenslangem Hausarrest verurteilt, arbeitete aber, obwohl er fast völlig erblindet war, unermüdlich weiter und konnte sogar noch sein zweites fundamentales Werk, die »Gespräche und mathematische(n) Demonstrationen über zwei neue Wissenschaften« (Discorsi. ..), vollenden und, mithilfe seiner Schüler, 1638 in Leiden veröffentlichen.
 
Grundlegung der Mechanik
 
D as Lebenswerk Galileis ist von erstaunlicher Tiefe und Vielfalt. Er fand das Pendelgesetz, erfand die hydrostatische Waage, entdeckte das wahre Fallgesetz, dass sich die Fallgeschwindigkeiten nicht — wie Aristoteles gelehrt hatte — wie die Gewichte der Körper verhalten, sondern wie die Quadrate der Fallzeiten. Alle Körper fallen gleich schnell; nur Reibung beziehungsweise Luftwiderstand verfälschen das reine Gesetz. Galilei entdeckte, dass die Wurfkurve eine Parabel ist. Dazu traten seine mit dem Fernrohr gemachten sensationellen Entdeckungen und manches andere.
 
Die »Discorsi«, in Dialogform geschrieben, begründeten Dynamik und Festigkeitslehre als neue physikalische Disziplinen. Naturforschung wird nun methodologisch beschrieben als Wechselspiel von Experiment und Deduktion, das Gedankenexperiment erhält eine angemessene Stellung. Die enge Verbindung von Naturforschung und Mathematik wird programmatisch formuliert. Die moderne Naturforschung ist geboren.
 
Galilei hatte, wie Kopernikus, noch an der Kreisbahn für die Planeten festgehalten und eine Art Trägheitsgesetz für die Bewegung auf Kreisbahnen postuliert. Hier nun konnte Johannes Kepler die Wende vollziehen. In einem auch naturphilosophisch bedeutsamen Werk formulierte Kepler — aufbauend auf den von Tycho Brahe 1572 noch ohne Fernrohr gewonnenen äußerst genauen Messdaten zur Planetenbewegung — 1609 die beiden ersten, nach ihm benannten Gesetze: 1) Die Planeten bewegen sich auf Ellipsen; in einem Brennpunkt steht die Sonne. 2) Eine gedachte Verbindungslinie zwischen Sonne und Planet überstreicht in gleichen Zeiten flächengleiche Teile der Ellipse. Das dritte Gesetz, erst 1619 ausgesprochen, vergleicht die Bahnen verschiedener Planeten: Die Quadrate ihrer Umlaufzeiten verhalten sich wie die dritten Potenzen ihrer großen Halbachsen.
 
Noch eine entscheidende Wendung hat Kepler vollzogen: Er suchte seine mathematisch formulierten, aber eben nur phänomenologischen, also lediglich aus Messgrößen hergeleiteten Gesetze ursächlich zu begründen, indem er die Planetenbewegung mit einer von der Sonne ausgehenden Kraft (vis) in Verbindung brachte und damit physikalisch erklärte. Auf diesem Wege weiterschreitend sollte Isaac Newton zur Formulierung des allgemeinen Gravitationsgesetzes gelangen. In der Zwischenzeit studierte der Niederländer Christiaan Huygens um 1690 die Gesetze des elastischen und des unelastischen Stoßes.
 
Galilei war am 8. Januar 1642 gestorben. Fast genau ein Jahr später, am 4. Januar 1643 (nach dem in England damals geltenden julianischen Kalender am 25. Dezember 1642), wurde Isaac Newton geboren, der bedeutendste Naturforscher, den die Menschheit hervorgebracht hat. Während eines Pestzuges in den Jahren 1665 bis 1667 verließ er wie jeder, der irgendwie weg konnte, die Universität Cambridge und zog sich in seine Heimat zurück. Dort, in ländlicher Stille, fand er die grundlegenden Einsichten seines wissenschaftlichen Lebens, die freilich erst viel später ausreifen bzw. zum Druck gelangen konnten. Er fand eine Form der Infinitesimalrechnung und erkannte die Zusammengesetztheit des weißen Lichtes aus Spektralfarben und weitere optische Phänomene. Auch die Grundlegung der Mechanik bereitete sich vor. Von seinen Freunden gedrängt, bereits als Professor in Cambridge, konnte Newton nach langen Mühen, die ihn an die Grenze zum psychischen Zusammenbruch trieben, das Werk vollenden und mit finanzieller Hilfe seiner Freunde 1687 das vielleicht bedeutendste Buch der Wissenschaftsgeschichte publizieren, die dreibändigen »Mathematischen Prinzipien der Naturwissenschaft« (Philosophiae naturalis principia mathematica), kurz »Principia« genannt.
 
Nach den Definitionen der Grundbegriffe Masse, Bewegungsgröße, Trägheit, Kraft und Zentripetalkraft, wird in drei Axiomen das Fundament der Dynamik gelegt: das Trägheitsprinzip, das Aktionsprinzip »Kraft ist das Produkt aus Masse und Beschleunigung« sowie das Wechselwirkungsprinzip »Aktion gleich Reaktion«. Kraft allein ist Ursache der Änderung eines Bewegungszustandes, insbesondere einer Beschleunigung. Es war ein großer Triumph, dass Newton aus den keplerschen Gesetzen das allgemeine Gravita- tionsgesetz abzuleiten vermochte: Zwei Körper ziehen sich mit einer Kraft an, die direkt proportional dem Produkt ihrer Massen und indirekt proportional dem Quadrat ihres Abstandes ist. Aber auch umgekehrt folgen aus dem Gravitationsgesetz die keplerschen Gesetze. Auf dieser Basis konnte Newton, der am 31. März 1727 starb, in den »Principia« eine Fülle konkreter Naturphänomene behandeln, von den Bewegungen der Planeten, Kometen und Monde bis hin zu Ebbe und Flut.
 
Unangefochten hat die newtonsche Mechanik die Basis aller Physik abgegeben, zwei Jahrhunderte lang. Physik auf Punktmechanik zu reduzieren, mit dem einzigen Grundgesetz der Gravitation zwischen Massen, galt bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts als Ziel aller Physik. Erst die elektromagnetische Feldtheorie von James Clerk Maxwell und Albert Einsteins spezielle Relativitätstheorie betteten die newtonsche Physik in größere Zusammenhänge ein: Newtons Mechanik ist gültig für relativ geringe Geschwindigkeiten.
 
Die Wahl des Titels »Mathematische Prinzipien« war ausdrücklich gegen René Descartes gerichtet, gegen dessen »Prinzipien der Philosophie« von 1644. Dort hatte dieser ein faszinierendes System des Universums entworfen, freilich aus philosophischen Gründen abgeleitet, getragen von der »plenistischen« Grundvorstellung des vollständig und ständig ausgefüllten Raumes, mit einer Fülle von eigens dafür ausgedachten Hypothesen zur Erklärung physikalischer Phänomene, ohne mathematische Fixierung von Gesetzen. Erst durch Voltaire, der Newtons Theorie in England kennen gelernt hatte, konnte die cartesische Naturphilosophie auf dem Kontinent endgültig verdrängt werden.
 
Mathematik der Variablen, Infinitesimalmathematik
 
Doch kommt Descartes das bleibende Verdienst zu, der Mathematik gänzlich neue Impulse verliehen zu haben mit der Behandlung von veränderlichen Größen, von Variablen. Als Teil des zurückgehaltenen Werkes »Die Welt« hatte Descartes 1637 die »Abhandlung über die Methode« (Discours de la méthode. ..) publiziert; dessen dritter Teil »Die Geometrie« wurde zu einem der Ausgangspunkte der späteren analytischen Geometrie.
 
Doch es war ein langer und schwieriger Weg, ehe nach der Mitte des 17. Jahrhunderts die eigentliche Infinitesimalmathematik zutage trat. Es ging um die Entwicklung eines neuen Typs von Mathematik, eines Typs, der imstande war, auch Bewegungsabläufe in der Natur und bei der Konstruktion von Mechanismen aller Art zu erfassen. Newton ging von »fließenden Größen« (Fluenten) aus; ihre Geschwindigkeiten sind die »Fluxionen«. Daher ist Newtons Infinitesimalmathematik unter dem Namen »Fluxionsrechnung« in die Geschichte der Wissenschaften eingegangen; sie ist inhaltlich im Wesentlichen identisch mit der heutigen Differenzial- und Integralrechnung. Diese geht zurück auf das Universalgenie Gottfried Wilhelm Leibniz, der von 1676 bis zu seinem Tod 1716 im Dienst des Hauses Hannover stand. Von ihm stammen unter anderem die Bezeichnung d für das Differenzial und das stilisierte Summenzeichen für das Integral.
 
Wegen der weitaus glücklicheren Bezeichnungsweisen setzte sich die leibnizsche Form der Infinitesimalmathematik auf dem Kontinent rasch durch und wurde in den Händen seiner Schüler Jakob und Johann Bernoulli und später bei Leonhard Euler — zusammen mit der Theorie der unendlichen Reihen, der Theorie der gewöhnlichen und partiellen Differenzialgleichungen und der Variationsrechnung — zu einem weit reichenden Mittel der Naturforschung und bei praktischen Anwendungen. Der Lauf der Planeten, Maschinenbau, Schiffsbau, Artilleriewesen, Optik, Hydromechanik, Punktmechanik, elektrische Anziehung, Optik, Saitenschwingung, Wärmeausbreitung, Schallausbreitung, Plattenschwingungen, Navigation, Kartographie, Festungsbau und Geodäsie konnten mathematischer Analyse unterworfen werden. Mathematik war gegen Ende des 18. Jahrhunderts universelles Mittel der Naturforschung geworden.
 
 Naturforscher auf neuen Wegen
 
Auch sonst brach eine große Zeit für das Studium der Natur an. Eine Fülle von Tatsachen, Kenntnissen und Zusammenhängen konnte gewonnen werden, auch dort, wo die wissenschaftlich-theoretische Systematisierung erst im späten 18. und sogar erst im 19. Jahrhundert folgen sollte. So war es etwa noch ein weiter Weg zur Etablierung der wissenschaftlichen Chemie durch Antoine Laurent Lavoisier oder zur Evolutionstheorie von Charles Darwin.
 
»Elektrische« Wirkungen
 
Seit alters her kannte man die vom Zitterrochen ausgehenden Schläge; man wusste, dass geriebener Bernstein (griechisch elektron) leichte Körperchen anzieht. Dazu kamen die Gewitterblitze, in der Frühzeit als Tätigkeit von Göttern gedeutet. Um 1663 rieb der Magdeburger Ratsherr Otto von Guericke eine rotierende Schwefelkugel mit der Hand, die daraufhin Federn, Papier und Metallplättchen anzog bzw. wieder abstieß. Es folgten Jahrzehnte der Entdeckung verschiedenster Phänomene »elektrischer« Wirkungen, unter anderem die Unterscheidung zwischen Leitern und Nichtleitern, später die systematische Untersuchung der Reibungselektrizität, die Konstruktion der Elektrisiermaschine und die Erfindung der »Leydener Flasche« durch den pommerschen Juristen und Geistlichen Ewald Jürgen von Kleist und den Niederländer Pieter van Musschenbroek. Mit diesen Kondensatoren konnten beträchtliche elektrische Schläge ausgeteilt werden. Es gab tödliche Unfälle. Mit einem spektakulären und gefährlichen Experiment — man ließ Drachen in Gewitterwolken aufsteigen — gelang Benjamin Franklin in Nordamerika der Nachweis, dass Blitze elektrischer Natur sind. Und groß war die Aufregung, als 1780 der italienische Arzt Luigi Galvani eine weitere, scheinbar gänzlich neue Art von Elektrizität entdeckte, die »tierische Elektrizität«: Als er mit dem Skalpell Froschschenkel präparierte, begannen diese zu zucken, wenn von einer in der Nähe befindlichen Elektrisiermaschine Funken übersprangen. Im Jahre 1785 schließlich fand der Franzose Charles Augustin Coulomb das Gesetz, nach welchem sich elektrische Ladungen anziehen oder abstoßen. Es hat dieselbe Struktur wie das Gravitationsgesetz.
 
 
Aufregend verlief auch die Entdeckung des Luftdrucks, von Evangelista Torricellis Experiment mit der Quecksilbersäule 1643 bis zu dem legendenumwobenen Experiment Guerickes 1654 auf dem Reichstag von Regensburg, als 16 Pferde ein Paar leer gepumpte Halbkugeln nicht auseinander reißen konnten. Die Diskussionen um den horror vacui (Furcht vor der Leere) zwischen »Vakuisten« und »Plenisten«— die einen hielten die Existenz eines Vakuums für möglich, die anderen nicht — lebten wieder auf und wurden erbittert geführt, handelte es sich doch um eine Grundfrage der Weltbetrachtung. Als Descartes, nach dessen Auffassung kein leerer Raum existieren kann, von Torricellis Experiment erfuhr, soll er geäußert haben, wenn es überhaupt ein Vakuum gäbe, dann nur in Torricellis Kopf. Jedenfalls wurden Luftpumpe und Barometer neue wissenschaftliche Instrumente. Die Abhängigkeit des Luftdrucks von der Höhe und vom Wetter wurde erkannt und die fundamentale Entdeckung gemacht, dass der Luftdruck gegen ein Vakuum Arbeit leisten kann. Von hier führte ein direkter, wenn auch technologisch schwieriger Weg zur atmosphärischen Maschine von Thomas Newcomen (1712) und zur Dampfmaschine von James Watt (1765).
 
»Chemie«
 
Aufregend auch — noch dazu geheimnisumwittert durch die enge Verquickung zwischen Mystik, Aberglaube, ernst gemeinter Alchimie und bewussten Betrügereien — waren Entdeckungen und Vorstellungen, die wir heute der Chemie zurechnen. Bei dem flämischen Arzt Johan Baptista van Helmont in der 1. Hälfte des 17. Jahrhunderts beispielsweise gab es noch keine klare Trennung. Er behauptete zwar, den Stein der Weisen gefunden zu haben, er erkannte aber auch, dass es neben der Luft noch andere, chemisch verschiedene Gase gibt, zum Beispiel die »Holzluft« (Kohlendioxid). Durch ihn wurde das Wort »Gas«, möglicherweise abgeleitet vom griechischen Wort chaos, zum naturwissenschaftlichen Fachausdruck.
 
Der aus Irland stammende, überaus vermögende Sir Robert Boyle gehört ebenfalls zu den prägenden Gestalten der wissenschaftlichen Revolution, und zwar in methodischer, inhaltlicher und organisatorischer Hinsicht. Er war, im Anschluss an Francis Bacon, Hauptvertreter der experimentellen Methode, verbesserte die Luftpumpe und fand 1662 (unabhängig von Edme Mariotte in Frankreich) das Boyle-Mariotte-Gesetz über den Zusammenhang zwischen Druck und Volumen von Gasen. Boyle gehörte zu den Gründern des »Unsichtbaren Kollegs« (Invisible College), aus dem schließlich 1660/62 die Royal Society, die britische Akademie der Wissenschaften, hervorging. Unvergängliche Verdienste erwarb sich Boyle auch um die Chemie. In bewusstem Gegensatz zu Aristoteles und zur Alchimie ließ er 1661 das Buch »Der skeptische Alchimist« (The sceptical chymist) erscheinen. Er hatte klar den Charakter von Säuren, Basen und Salzen erkannt. Als Anhänger des Atomismus gelangte er zu einem neuen, weitaus schärferen Elementbegriff: »Stoffe, die nicht aus irgendwelchen anderen Stoffen gemacht sind«; der moderne Elementbegriff von Lavoisier bereitete sich vor.
 
Mikroskop und Fernrohr
 
Brillen als Lesehilfen kannte man in Europa seit dem 13. Jahrhundert. Von holländischen Linsenschleifern gingen Ende des 16./Anfang des 17. Jahrhunderts Erfindungen aus — die des Mikroskops und des Fernrohrs —, die geradezu sensationelle Entdeckungen in der Welt des Kleinen und am Himmel ermöglichten. Man entdeckte die roten Blutkörperchen, die Feinstruktur des Körperbaus von Insekten, die Einzeller, Bakterien im Zahnbelag, Samenfäden, Muskelfasern, Kapillargefäße. Zu den herausragenden »Mikroskopikern« gehörten die Niederländer Jan Swammerdam und Antony van Leeuwenhoek, der, als Amtsdiener kümmerlich seinen Lebensunterhalt bestreitend, 1680 Mitglied der Royal Society wurde.
 
Galilei hatte 1609 von einem kurz zuvor in den Niederlanden erfundenen »perspektivischen Rohr« erfahren und erfand seinerseits das Fernrohr nach, »geleitet von den Gesetzen der Dioptrik«. Als einer der ersten Naturwissenschaftler erkannte er das Fernrohr als wissenschaftliches Instrument und richtete es auf den Himmel. Um 1609/10 machte er fundamentale Entdeckungen, die im völligen Gegensatz zum überkommenen Weltbild standen: Der Mond ist nicht glatt, er besitzt Berge und Täler. Die Venus zeigt Phasen, der Jupiter hat Monde, die Sonne hat Flecken. Diese Entdeckungen — niedergelegt im schon genannten »Sternboten« (Sidereus nuncius) — bestärkten Galilei endgültig in der Überzeugung, dass die heliozentrische Astronomie richtig sei. Der Konflikt des gläubigen Katholiken Galilei mit der Inquisition bahnte sich an.
 
Kepler, mit dem Galilei korrespondiert hatte, erfand seinerseits das astronomische Fernrohr (zwei Sammellinsen); Johannes Hevelius aus Danzig lieferte 1647 eine erstaunlich gute Mondkarte, Christiaan Huygens entdeckte um 1690 einen der Monde des Saturn und konnte das den Saturn umgebende Phänomen als Ring identifizieren.
 
Linsenfernrohre besitzen Mängel. Um Schärfefehler (sphärische Aberration) in Grenzen zu halten, verwendete man Linsen geringer Brennweite, infolgedessen wuchsen die Fernrohre zu instabilen Ungetümen von 20 bis 30 m Länge an. Um Farbfehler (chromatische Aberration) auszuschließen, wurden Spiegel anstelle der Objektivlinsen verwendet. Hier ging Newton voran: Er konstruierte 1668 das erste, überraschend leistungsfähige Spiegelteleskop und wurde, noch ein junger Mann, Mitglied der Royal Society. Der aus Deutschland stammende, in der Nähe von Windsor in England wirkende Friedrich Wilhelm Herschel, ursprünglich ein Militärmusiker, entdeckte 1781 mit einem Riesenteleskop (Durchmesser des Spiegels 1,22 m) einen gänzlich neuen unbekannten Planeten, den Uranus. Eine weitere Sensation.
 
Tier- und Pflanzenwelt
 
Die »Kräuterbüchlein« und »Bestiarien« der Renaissance, ausgestattet mit zum Teil hervorragenden Holzschnitten, hatten freilich die Fülle der exotischen Gewächse und Tiere aus den neuen Erdteilen noch nicht berücksichtigen können. Auch fehlte ihnen eine von der Biologie her bestimmte Gliederung. Sie waren alphabetisch geordnet oder, falls sie pharmazeutischen Zwecken dienen sollten, nach medizinischen Gesichtspunkten gegliedert. Überhaupt können Apotheken als historische Ausgangspunke der wissenschaftlichen Botanik verstanden werden — und übrigens auch der Chemie. Auch Johann Friedrich Böttger, der Erfinder des europäischen Porzellans (1708/09), war Apothekerlehrling. Jedenfalls drängte die Tier- und Pflanzenwelt, durch die Entdeckungsreisen ins Riesenhafte, fast Unüberschaubare ausgedehnt, zur Systematisierung. Der Schwede Carl Linné (später geadelt), bereits 1732 durch eine Forschungsreise durch Lappland ausgewiesen, kam 1735 in die Niederlande und studierte dann bei dem ehrwürdigen Professor Hermann Boerhaave in Leyden, in dessen botanischem Garten sich mehr als 3000 Arten aus aller Welt befanden. Noch im selben Jahr publizierte Linné sein Buch »Natursystem« (Systema naturae), eine Klassifizierung der Minerale, Tiere und Pflanzen. In der 13. Auflage wuchs das Werk auf über 6000 Seiten in 12 Bänden an. In der 10. Auflage ordnete er den Menschen als homo sapiens in das System der Natur ein. Seit 1753, in den »Pflanzenarten« (Species plantarum), verwandte Linné für mehr als 7000 Pflanzen die zweiteilige Benennung, wie wir es auch heute noch tun: Art und Gattung. So ist etwa ribes rubrum die rote Johannisbeere. Das Spottwort vom »Kanzleibeamten Gottes« lief um. »Gott hat die Welt geschaffen, aber Linné hat sie geordnet«, hieß es. Linnés Werk ist in der Tat bewunderungswürdig; aber eine entwicklungsgeschichtlich fundierte Systematisierung von Flora und Fauna konnte erst das 19. Jahrhundert in Angriff nehmen.
 
Der geographische Horizont
 
Ungeheuer hatten sich seit den Entdeckungsreisen von Christoph Kolumbus die geographischen Horizonte der Europäer erweitert. Den Reisen und Eroberungszügen folgte allerdings erst nach und nach die wissenschaftliche Erschließung der neuen Erdteile. Dabei spielten die Forschungsreisen des britischen Kapitäns James Cook in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts eine herausragende Rolle. Er kartierte die Ostküste Australiens, stieß bis zur Treibeisgrenze der Antarktis vor und suchte eine Nordwestpassage, das heißt einen Seeweg vom Pazifik um das nördliche Amerika herum zum Atlantik. Er konnte bestätigen, dass Amerika und Asien durch Meer getrennt sind. Hinter dieser Leistung standen wesentlich auch die Vervollkommnung der nautischen Instrumente, des Schiffschronometers, des Kompasses und des Sextanten sowie natürlich die Fortschritte im Schiffsbau. Am Ausgang des 18. Jahrhunderts besaßen die Europäer eine im Wesentlichen richtige Vorstellung vom Verlauf der Küstenlinien der Kontinente (bis auf die Antarktis); das Wissen freilich um das Innere von Südamerika, Afrika und Asien war noch höchst unvollkommen.
 
 Im Geiste der Aufklärung
 
Die große französische »Encyclopédie«
 
Es wirkt fast wie ein Symbol, dass nach der Mitte des 18. Jahrhunderts ein groß angelegtes enzyklopädisches Werk erschien, das, als Zusammenfassung allen bekannten Wissens gedacht und als Instrument der Aufklärung gegen die bestehenden politischen und sozialen Verhältnisse orientiert, dazu beitrug, den Weg zur bürgerlichen Gesellschaft zu bereiten.
 
Erst das frühe 18. Jahrhundert hatte begonnen, technische Fortschritte als Wissenschaft zu betrachten. Bis dahin galten sie eher als Kunst — auch das Wort »Technik« leitet sich ja von dem griechischen Wort für Kunst her. Manufakturen, Maschinen und Erfindungen wurden Gegenstand breiten öffentlichen Interesses. In Deutschland erschien seit 1732 in 68 Bänden Johann Heinrich Zedlers »Großes vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste«. Es wurde ein großer buchhändlerischer Erfolg.
 
In Frankreich wurden unter der Leitung von Denis Diderot führende Gelehrte zu einer Autorengruppe zusammengeführt. Auch Mathematiker und Naturforscher wirkten mit; unter ihnen d'Alembert. Die großartige »Encyclopédie«, argwöhnisch vom Ancien Régime beobachtet, erschien von 1751 bis 1772 in 28 Bänden, eine unvergleichliche wissenschaftliche Leistung nach Inhalt und Zielstellung. In der Vorrede schrieb d'Alembert: »Das Werk, das wir begonnen haben und zu Ende zu führen wünschen, hat einen doppelten Zweck: Als Enzyklopädie soll es, soweit möglich, die Ordnung und Verkettung der menschlichen Kenntnisse erklären, und als nach Vernunftgründen geordnetes Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe soll es von jeder Wissenschaft und jeder Kunst... die allgemeinen Grundsätze enthalten, auf denen sie beruhen, und die wesentlichsten Besonderheiten, die ihren Umfang und Inhalt bedingen.«
 
Naturgeschichte des Himmels
 
Wenige Jahre, nachdem die ersten Bände der »Encyclopédie« erschienen waren, ließ 1755 im fernen Königsberg, im absolutistischen Preußen, der junge Immanuel Kant ein Buch drucken, das weltgeschichtliche Bedeutung erlangen sollte. Es trug den Titel »Allgemeine Naturgeschichte des Himmels und Theorie des Himmels, oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt.« Hier handelt es sich um die erste wissenschaftliche Kosmogonie, also um eine Darlegung dessen, wie die Welt geworden ist: Sonnensysteme und Milchstraßensysteme sind aus rotierenden, sich verdichtenden Materienebeln hervorgegangen; unser Planetensystem ist eines unter vielen. Unter dem Einfluss der newtonschen Gravitation hatte sich die Urmaterie in Bewegung gesetzt; Wirbel bildeten sich, die Himmelskörper herausschleuderten.
 
Im Detail haben viele Aussagen Kants späteren Einsichten nicht standhalten können. Entscheidend jedoch war die Grundaussage, dass der Kosmos eine Entwicklung in Zeit und Raum durchläuft.
 
Kants »Allgemeine Naturgeschichte« stellte einen von der Aufklärung getragenen Höhepunkt des Entwicklungsgedankens dar. Auch andere Naturforscher traten — ohne von Kant zu wissen — mit kosmologischen Überlegungen hervor, unter ihnen der Elsässer Johann Heinrich Lambert, ein autodidaktischer Universalgelehrter, und Friedrich Wilhelm Herschel und sein Sohn John in England. Die am präzisesten ausgeführten Entwürfe zur Geschichte des Kosmos stammen von dem Franzosen Pierre Simon Laplace. Seine »Darlegung des Weltsystems« (Exposition du système du monde) erschien 1796. Die fünfbändige »Himmelsmechanik« (Mécanique celeste) wurde zwischen 1799 und 1825 publiziert, ein Meisterwerk der mathematischen Astronomie. Auch Laplace, seit 1817 Marquis, hatte sich ausführlich mit Kosmogonie beschäftigt. Seiner Meinung nach hatte eine rotierende Zentralsonne Materieringe ausgeschleudert, die sich dann zu Planeten verdichtet hatten. Zwischen den Theorien von Kant und Laplace bestehen einige Unterschiede, doch spricht man heute von der kant-laplaceschen Kosmogonie oder von der Nebularhypothese.
 
In der Astronomie hatte um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert der Entwicklungsgedanke konkrete Gestalt angenommen, quasi im Vorgriff auf die stürmische Entwicklung der Gesellschaft und mit ihr die von Mathematik, Naturwissenschaften und Technik in der Periode der industriellen Revolution.
 
Prof. Dr. Hans Wussing
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
industrielle Revolution: Wissenschaft und Technik im Verbund
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Buchdruck: Eine Technik verändert die Welt
 
 
Dictionary of scientific biography, herausgegeben von Charles C. Gillispie u. a. 18 Bände. Neuausgabe New York 1981-90.
 
Fachlexikon abc Forscher und Erfinder, herausgegeben von Hans Wußing u. a. Thun u. a. 1992.
 
Geschichte der Naturwissenschaften, herausgegeben von Hans Wußing. Beiträge von Sonja Brentjes u. a. Köln 21987.
 
Geschichte der Technik, herausgegeben von Rolf Sonnemann. Lizenzausgabe Köln 21987.
 
Geschichte der Technikwissenschaften, herausgegeben von Gisela Buchheim und Rolf Sonnemann. Leipzig 1990.
 
Histoire générale des sciences, herausgegeben von René Taton. 3 Bände. Neuausgabe Paris 1994-95.
 
Lexikon der Geschichte der Naturwissenschaften, begründet von Josef Mayerhöfer. Bearbeitet von H. P. Axmann u. a. Lieferung 1-8. Wien 1959-73; mehr nicht erschienen. Fortgeführt als Archiv der Geschichte der Naturwissenschaften, 25 Hefte. Wien 1980-90; mehr nicht erschienen.
 Spangenburg, Ray / Moser, Diane K.: The history of science from the ancient Greeks to the scientific revolution. New York u. a. 1993.
 
Die Technik. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, herausgegeben von Ulrich Troitzsch und Wolfhard Weber. Braunschweig 1982.

Universal-Lexikon. 2012.

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